Der  Song  des  Rockstars

 Übersetzt aus den Englischen von Renate Weitbrecht

BUCH EINS 

KAPITEL EINS 

Das schöne Hollywood. Das ist ein Witz, sagt Teddy zu sich selbst, während er den Sunset Boulevard entlangfährt. Es kommt ihm vor, als würde das Hollywood-Zeichen, das hoch auf den Hügeln von L.A. thront, ihn mit einem kalten bitteren Grinsen verhöhnen. »Du meinst also, du kannst hier groß rauskommen?«, spottet es. »Wer, zum Teufel, hat dir das denn eingeredet?« 

Teddy McGillicuddy ist gerade dreiundzwanzig geworden. In seiner Szene, der Welt des Rock'n Roll, ist das bereits alt. Schaffst du den Durchbruch nicht mit achtzehn (oder vielleicht mit zwanzig, wenn du dir Zeit lässt), dann schaffst du ihn wahrscheinlich nie. Wir leben nicht mehr im goldenen Zeitalter der Rockmusik – in den Sechzigern oder Siebzigern, als die Kids bereit für diesen neuen Sound und von ihm begeistert waren. Wir schreiben inzwischen die Neunziger, und jeder naive Möchtegern-Rockstar über zwanzig hat die Plattenfirmen bereits mit jeder Menge Demo-Aufnahmen überhäuft. 

»Du gehst in der Masse unter, Bürschchen«, scheint das Hollywood-Zeichen zu sagen. »Dein armseliges kleines Demotape ist nur eines von hundert – oder eher tausend –, die tagtäglich über die Schreibtische der Plattenproduzenten wandern und in einem noch freien dunklen Winkel des Mülleimers landen, der bereits vor Demotapes überquillt. Die Zeit der leicht verdienten Kohle und der heißen Groupies, die Zeit von Sex, Drogen und Rock'n Roll ist vorbei. Mach dir nichts vor. Wenn du keinen Kumpel bei einer Plattenfirma hast, oder einen reichen Daddy, der dich mit seinen Millionen sponsert … tja, dann vergiss es (»fahget it«, wie ein New Yorker sagen würde). »Verschwinde von hier«, wirst du zu hören bekommen. »Geh zurück in dein Heimatstädtchen im Mittleren Westen und such dir einen Job als Schuhverkäufer.« 

»Brown shoes won't make it. Quit school, why fake it«, sang Frank Zappa. Und Bob Dylan sagte: »20 years of schoolin' and they put you on the day shift.« 

»Das ist alles, wozu du taugst, Teddy«, scheint das Hollywood-Zeichen zu sagen. »Pack deine lausigen kleinen Demos weg und such dir einen anständigen Job. Zwanzig Jahre Ausbildung, und du wirst völlig zu Recht in die Tagesschicht gesteckt. Willkommen in der Arbeitswelt.« 

Jetzt sieht das Zeichen aus, als würde es hüsteln und schief grinsen, wie ein alter Knabe, der es genießt, einen jüngeren zu piesacken. Offenbar bereitet es ihm ein teuflisches Vergnügen, Teddys Seele zu zerstören, ihn an den Rand des Selbstmords zu treiben, den Finger auf den Ausknopf zu legen. 

Teddy erscheint seine Heimatstadt im Mittleren Westen, Montezuma im Bundesstaat Missouri, nun wie ein Traum. Wie enthusiastisch, süß und erwartungsvoll er damals war! Es war immer ein Riesenspaß, auf einer Tanzveranstaltung der Highschool für die anderen Teenager zu spielen. Diese Mädchen, hübsche junge Dinger mit Bewunderung in den Augen … oh ja, das war ein Highschool-Traum! 

Und als er zum Studium am Claremont College in Des Moines im Bundesstaat Iowa zugelassen wurde, platzte seine Familie fast vor Stolz. Natürlich spielte Teddy weiterhin Gitarre und hatte seine heißgeliebte Martin 0028 immer in Reichweite. Aber sein Vater erinnerte ihn mit ernster Miene daran, dass im Musikgeschäft – mit diesem »Rock'n-Roll-Ding«, wie er es nannte – absolut nichts zu verdienen war. Teddys Eltern hatten nicht viel Geld, doch sie kratzten und sparten im Laufe der Jahre genug zusammen, um ihn aufs Claremont College schicken zu können. Teddy hatte die Highschool abgeschlossen und war nun Student im ersten Semester. Sie waren wahnsinnig stolz. 

Teddy war fest entschlossen, einen sicheren Job in einem angesehenen Unternehmen an Land zu ziehen, der ihm in den kommenden Jahren eine Menge Geld einbringen würde. Schließlich schuldete er das seiner Familie und ihren Vorfahren aus den harten Zeiten im Mittleren Westen, die von alten Fotos an der Wand im Treppenflur auf ihn hinabblickten. Teddy, unser Junge, schienen sie zu sagen. Der macht seine Vorfahren stolz. 

Er nahm sich vor, sich bis zum Ende des ersten Semesters für ein Hauptfach zu entscheiden. Er schnupperte in mehrere Kurse hinein, aber die Einführung in die Physik, die angewandte Mathematik und die Grundlagen der Ingenieurwissenschaft ließen ihn kalt. Was für eine Zeitverschwendung, dachte er. Wenn ich bis an mein Lebensende auf dem Gebiet der quantitativen Finanzwirtschaft arbeiten muss, kann ich genauso gut eher früher als später den Löffel abgeben. 

Aber dann schrieb er sich in Psychologie ein. Okay, dachte er, dafür könnte ich mich begeistern. Er besuchte einen Kurs über die Werke von Sigmund Freud, den er als einen großen Pionier der psychologischen Wissenschaft betrachtete, und war fasziniert. Freud hatte praktisch im Alleingang die Psychoanalyse erfunden. Einige seiner frühen Schriften – Das Unbehagen in der Kultur, Die Traumdeutung und Jenseits des Lustprinzips – lagen in dem Zimmer, das Teddy sich mit einem Kommilitonen namens Brad teilte, auf seinem Bett und seinem Bücherregal verstreut. Da kann ich mich reinarbeiten, dachte Teddy. Das werde ich studieren, bis ich es draufhabe. Und die treue Martin 0028 verstaubte in der Ecke. 

Erst als er einem bestimmten Mädchen begegnete, das ihn auf eine bestimmte Art ansah, ergab sich alles andere. Brad meinte, bei sowas sei immer ein »bestimmtes Mädchen« im Spiel und ließ, wie üblich, eine anzügliche Bemerkung folgen: »Die würde ich nicht von der Bettkante stoßen.« 

Das Mädchen kam eines Tages in Teddys Zimmer spaziert, um sich Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie auszuleihen (die beiden waren im selben Kurs). Da fiel ihr Blick auf die alte akustische Gitarre, die verstaubt in der Ecke stand. 

»Du spielst Gitarre?«, fragte sie. »Ja«, erwiderte er. »Ich habe immer ziemlich viel gespielt, aber zurzeit muss ich mich wirklich auf mein Studium konzentrieren und hab kaum Zeit dazu.« 

»Ah, verstehe«, sagte sie. »Aber ich würde zu gerne jemanden Gitarre spielen hören. Das erinnert mich an meinen alten Onkel. Der hat immer für mich gespielt« – bei den Worten »zu gerne« lag eine gewisse Sinnlichkeit in ihrer Stimme. Und da junge Studenten wie Teddy hübsche Mädchen beeindrucken wollen, griff er artig zu seiner Gitarre. »Mal sehen«, sagte er. »Ich kenne da vielleicht einen Song oder zwei.« 

Das genügte. Ihre Augen strahlten immer mehr, während er von einem Song zum nächsten überging. Das ist so einfach, dachte er bei sich. Ein Song folgte mühelos auf den andern, und sie rückte mit einem Funkeln in ihren Strahleaugen näher an ihn heran. Man konnte beinahe riechen, dass es auf Sex hinauslaufen würde. Es lag in der Luft. Sie erfuhr seinen Namen, und er ihren (sie hieß Laura). Atemlos liebten sie sich auf dem schmalen Etagenbett. Es war wirklich Zeit. 

Bald entwickelte sich daraus ein Ritual. Er griff nach seiner Gitarre und spielte für ihre leuchtenden Augen. Sie war so begeistert, dass er anfing, neue Songs zu schreiben, nur um zu sehen, wie sie darauf reagierte. Und wenn er ihr erzählte, dass er erst am Vorabend oder am Morgen oder sogar erst gerade eben angefangen hatte, den Song zu schreiben, hatte sie einen besonderen Glanz in den Augen und ein wollüstiges Lächeln auf den Lippen. Er spielte den Song, und das genügte meistens, um die Erregung zu steigern, bis sie nicht länger auszuhalten war. Dann liebten sie sich erneut wild und leidenschaftlich auf der dünnen Matratze des alten Claremont-Colleges von Des Moines. Und Brad (der wie alle Zimmergenossen aller Generationen gerne obszöne Kommentare abgab) stöhnte: »Oh ja, gib's mir, Baby, gib's mir!« 

Aber wichtiger war, dass Teddy mit wachsender Begeisterung neue Songs schrieb, und nicht nur wegen Laura. Tatsächlich fing er am späten Nachmittag schon zwei oder drei Stunden vor ihrem Eintreffen damit an. Und wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er zugegeben, dass es ihm mehr Vergnügen bereitete, Songs zu schreiben, als anschließend mit Laura herumzuknutschen und zu schlafen (oder wie Brad sagen würde, zu »rammeln«). 

Besonders ein Song schlug richtig ein: »Gambled on Your Love, Babe«. Er hatte auch einen zündenden Text, und bald hallte der Refrain »I gambled on your love, babe. I gambled and I lost« durch die Flure, gesungen von Laura, dann auch von ihren Freundinnen und schließlich sogar von deren Freunden. 

Eines Tages wurde Teddy im Flur von zwei Studenten angequatscht. 

»He, Alter«, sagte der eine. »Du bist doch der Typ, der ›Gambled on Your Love, Babe‹ geschrieben hat. Ein Supersong, ein echter Ohrwurm, Mann! Wenn du Lust auf eine Jamsession hast, komm ich mit meinem Bass vorbei.« So wurden die Laundromats geboren. Joe, der Bassist, brachte seinen Freund Olaf mit, der Schlagzeuger war und anfangs auf der Rückseite eines alten Aktenkoffers trommelte. Sie begannen im sogenannten Gemeinschaftsraum zu spielen. Das sprach sich schnell im College herum, so dass der nicht besonders große Raum brechend voll wurde. So viele Leute fragten, wann sie wieder spielen würden, dass Teddy beschloss, jeden Donnerstagabend dort mit Joe und Olaf Musik zu machen. Es wurde zu einer regelmäßigen Veranstaltung. 

Irgendwann fragte jemand, wie die Band eigentlich hieß. Teddy, der gerade unten in der Gemeinschaftsküche seine Wäsche gewaschen hatte, erwiderte: »Ähm, mal sehen, ähm … die Laundromats. Ja, die Laundromats! Also bis Donnerstag, okay? Mach's gut.« 

Dann schlossen sich zwei coole Typen dem Trio an: Elvin als Leadgitarrist und Matt mit seiner Mundharmonika. Sie ergänzten die Band perfekt. Es war der totale Hammer! Und anfangs schien alles so einfach. Jemand fragte an, ob sie auf einer Tanzveranstaltung fürs ganze College spielen würden. Also packten sie ihre Ausrüstung zusammen und bauten sie in der großen Aula des Claremont-Colleges auf. »Teddy McGillicuddy & die Laundromats«, stand auf einem handgemalten Plakat. 

Und die Menge im Saal flippte total aus. Klar spielten sie ein paar gutbekannte Songs, aber es waren ihre eigenen Stücke, die das Publikum mitrissen: »Below the Surface«, »Good Year«, »Sweet Melissa«. Alle gerieten außer Rand und Band vor Begeisterung. 

Doch es war der Song »Gambled on Your Love, Babe«, der »den Mädels direkt in die Muschi fuhr«, wie Teddys Zimmergenosse Brad es formulierte. »Das ist ein Hit!«, sagten die Fans zu Teddy. »Wenn du den Song als Platte rausbringst, kauf ich sie auf jeden Fall!« Das setzte Teddy eine Idee in den Kopf, die ihn nicht mehr losließ: Wenn ich diesen Song als Platte rausbringe und wenn sie sich millionenfach verkauft … dann werde ich ein Star. Ein Rockstar. 

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Sein Verstand warnte ihn davor, sich Illusionen hinzugeben, die ihn blind machten für die eher düsteren Zukunftsaussichten. Doch sein anderes, wildes Rockstar-Selbst, der ego-gesteuerte Teil von ihm, sah eine verheißungsvolle Welt vor sich. 

»Ein Rockstar. Ein echter Rockstar. Warum nicht, zum Teufel?«